Eine Rezension von „Warum die Deutschen? Warum die Juden?” — Teil 2

  1. Januar 2016

    English version: Review of Why the Germans? Why the Jews?

Brenton Sanderson

Teil 1.

Götz Alys Neidtheorie als Erklärung für den deutschen „Antisemitismus”

Wie in Teil 1 erwähnt, ist die zentrale These in Warum die Deutschen? Warum die Juden?, dass die deutsche Judenfeindschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert durch den Neid des durchschnittlichen Deutschen auf den rapiden sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg der Juden motiviert war. Aly baut auf der These seines vorherigen Buches, Hitlers Volksstaat auf, in dem behauptet wird, dass die Beliebtheit der Nationalsozialisten der Tatsache zugeschrieben werden kann, dass „die Mehrheit der Deutschen in materieller Weise, direkt oder indirekt, von der Enteignung der Juden profitierten.”[i]

Aly hält fest, dass das gleiche Argument ursprünglich vom jüdischen Intellektuellen Siegfried Lichtenstaedter vertreten wurde, der beim Versuch, den Aufstieg des Nationalsozialismus und seine antijüdische Politik in Deutschland zu begründen, 1937 bemerkte, dass die NSDAP „eine Partei von Emporkömmlingen” sei. Juden wurden gehasst, weil sie Konkurrenten waren, was „Überleben, Ehre und Prestige” anging. Der aggressive Antisemitismus” in Deutschland basiere auf Neid und dem Wunsch nach sozialer Besserstellung. Wenn Juden als Gruppe als „unverhältnismäßig glücklicher” angesehen wurden als andere Gruppen, schrieb Lichtenstaedter, „warum sollte dies nicht zu Missgunst und Ressentiments, Sorgen und Bedenken führen, was die eigene Zukunft angeht, wie es allzu oft der Fall ist zwischen Einzelpersonen.”[ii]

Theodor Herzl

Die gleiche grundlegende Argumentation vertrat der wegweisende zionistische Führer Theodore Herzl. Kevin MacDonald zitiert in Absonderung und ihr Unbehagen Herzl: „Ein Hauptgrund für den modernen Antisemitismus ist, dass durch die Emanzipation Juden in direkte wirtschaftliche Konkurrenz mit der nichtjüdischen Mittelklasse getreten waren. Antisemitismus, der auf der Konkurrenz um Ressourcen basierte, war rational.” Laut Herzl „konnte man nicht von einer Mehrheit erwarten, ‘sich unterjochen zu lassen’ von ehemals verachteten Außenseitern, die man gerade aus dem Ghetto gelassen hatte.”[iii]

Was laut Aly Deutschlands Juden so beneidenswert machte war die Art, wie sie die neuen wirtschaftlichen Chancen ergriffen, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ergaben, als die alte Feudalordnung der modernen Welt Platz machte. Nichtsdestotrotz, um die unangenehme Schlussfolgerung zu vermeiden, dass der deutsche „Antisemitismus” des 19. und 20. Jahrhunderts somit rational war, behauptet Aly, dass der eigentliche Grund für die von Neid getriebene Feindschaft gegen Juden ausschließlich in den psychologischen Unzulänglichkeiten und Deformierungen der Deutschen selber begründet lag. Somit waren es für ihn geistige Defizite der Deutschen, und nicht irgendein jüdisches Benehmen, das die deutsche Nation einen Weg einschlagen ließ, der im „Holocaust” gipfelte.

Deutsche Minderwertigkeitskomplexe, politische Unreife und nationale Verunsicherung, kombiniert mit der Verbitterung über den Versailler Vertrag, machten sie, aus Alys Sicht, empfänglich für die Sirenenklänge von Hitlers NSDAP, welche auf Kosten der jüdischen Eindringlinge Ansprüche für ethnische Deutsche betonte. Aly behauptet, dass obwohl viele Deutsche anfänglich nicht mit den antijüdischen Ansichten der Nationalsozialisten übereinstimmten, sie durch Hitlers Visionen wirtschaftlichen Fortschrittes, Selbstversorgung und aufsteigender sozialer Mobilität bestärkt wurden, sich auf eine „kriminelle Kollaboration” zwischen dem Volke und der politischen Führung einzulassen.

Alys Neidtheorie als Erklärung für den deutschen „Antisemitismus” basiert letztendlich auf dem Glauben an eine jüdisch-intellektuelle Höherwertigkeit und deutsche Minderwertigkeit, ironischerweise eine von vielen deutschen „Antisemiten” des 19. Jahrhunderts vertretene Ansicht. Zum Beispiel Wilhelm Marr (der den Begriff „Antisemitismus” prägte) definierte Juden nicht als „kleine, schwache Gruppe, sondern als Weltmacht! Sie sind viel stärker als die Deutschen.”[iv] Ausländische Beobachter wie der britische Historiker John Foster Fraser bemerkten 1915 in ähnlicher Weise, dass deutsche Akademiker nicht so recht wussten, wie sie die Juden fernhalten sollten, weil der Wettbewerb „zwischen den Söhnen des Nordens mit ihrem blonden Haar und schwerfälligen Intellekt und den Söhnen des Orients mit ihren schwarzen Augen und ihrem wachen Verstand” so ungleich war.[v]

Ein sich in Alys Buch ständig wiederholende Leier ist, dass die unterbelichteten Deutschen den Juden im 19. und frühen 20. Jahrhundert geistig schlichtweg nicht gewachsen waren. Zum Beispiel schreibt er, dass „untalentierte christliche Studenten, im Alten verharrende Unternehmer und Geschäftsleute, die nicht mit Zahlen umgehen konnten” einfach nicht in der Lage waren, mit den „intellektuell höherstehenden” Juden zu konkurrieren.[vi] An anderer Stelle stellt er fest, dass

Im Vergleich zu ihren christlichen Landsleuten überwanden sie [die Juden] die anfänglichen Hindernisse auf dem Weg zu sozialem Aufstieg mit Leichtigkeit, obwohl sie rechtlich erst 1918 überall in Deutschland völlig gleichgestellt wurden. Im Gegensatz dazu befanden sich christliche Aufsteiger in einer schlechteren Position als die Juden, die zwar objektiv betrachtet benachteiligt, subjektiv gesehen jedoch besser auf die neuen sozialen Bedürfnisse vorbereitet  waren. Als nichtjüdische Deutsche begannen, staatlichem Schutz vor wirtschaftlich und intellektuell höherstehenden Juden zu fordern, wurden Gesetze und Verordnungen erlassen, um die Privilegien der Christen sicherzustellen. Doch solch ein Protektionismus warf vor allem ein Schlaglicht auf die Langsamkeit und Inkompetenz vieler Nichtjuden. Öffentliches Versagen war peinlich und jene ängstlichen Menschen voller Minderwertigkeitskomplexe, die zu den Verlierern des sozialen Wandels zählten, wurden zu modernen Antisemiten.[vii]

Eine ähnliche Sicht vertrat dazu am Anfang des 20. Jahrhunderts der jüdische Neurologe Abraham Meyerson, der postulierte, dass diese jüdisch-intellektuelle Überlegenheit die Hauptursache des europäischen Antisemitismus sei und nicht die gruppenorientierte Moral und das Benehmen der Juden. Er bestand darauf, dass „mit dem Untergang des Römischen Reiches Juden und Araber als einzige Kultur und Wissenschaft am Leben erhalten haben. In anderen Worten war der Jude seinen ungehobelten, kriegerischen Gastgebern in diesen Angelegenheiten [Wissenschaft und Kultur] spielend überlegen. Diese Überlegenheit führte zu Missgunst, zu Angst vor den Fähigkeiten der Juden; eine Angst, die nie verschwand, obwohl die Kultur der westlichen Rassen ein hohes Niveau erreicht hat; eine Angst, die noch immer bei benachbarten Rassen Ablehnung auslöst.”[viii]

Paradoxerweise gibt Aly an anderer Stelle in seinem Buch zu, das diese „untalentierten,” „im Alten verharrenden” und „inkompetenten” Deutschen „im 19. Jahrhundert bemerkenswerte intellektuelle und (etwas später) wirtschaftliche und technologische Durchbrüche erzielten.”[ix] Peter Watson, der britische Historiker und Autor des Monumentalwerkes Der deutsche Genius, hat darauf hingewiesen, dass Deutschland im 19. Jahrhundert das „erste modern erzogene Land” war und auch jenes, das die Institutionalisierung wissenschaftlicher und technologischer Forschung erfand — etwas, das entscheidend war für die moderne Industriezivilisation. Er hält die oft wiederholten Behauptung einer jüdisch-intellektuellen Vormacht in Deutschland im 19. Jahrhundert für „überzogen,” und besteht darauf, dass in Bezug auf die Entwicklung von Musik, Philosophie, Dichtung und Wissenschaft in Deutschland in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts „Juden eine sehr kleine Rolle spielten” (und, mag man trotz Alys obiger Aussage hinzufügen, eine nichtexistente Rolle im Mittelalter, als jüdische Gemeinschaften von ihrer kulturellen Umgebung völlig isoliert und in das Verfassen religiöser Schriften vertieft waren).

Aly vertritt auch die Meinung, dass zusätzlich zu ihren intellektuellen Defiziten der Grund für den pathologischen Neid der Deutschen im 19. und frühen 20. Jahrhundert in ihrer „Schwäche, Ängstlichkeit und selbstempfundener Minderwertigkeit sowie ihrem Mangel an Selbstvertrauen und einem übermäßigem Ehrgeiz begründet liegt.” Er liefert keine Beweise, dass in jener Zeit diese Eigenschaften typisch deutsch gewesen wären, sondern schreibt sie der „angeborenen Unsicherheit der deutschen nationalen Identität” zu, die aus der relativ späten Entwicklung der deutschen Nation im Vergleich zu anderen europäischen Staaten resultierte.

Es stimmt, dass es aus verschiedenen historischen Gründen für die Deutschen schwierig war, als Nation zusammenzuwachsen. Die meisten Geschichtsbücher über Deutschland beginnen mit der Wiedergabe der großen Taten der germanischen Völker in Italien, Frankreich und Spanien anstatt den Werdegang der Deutschen in Deutschland zu erzählen. Die geographisch fragmentierten Ursprünge  der Deutschen spiegeln sich in den unterschiedlichen Namen wieder, die andere Völker ihnen gegeben haben — sie waren „Sachsen” für die Finnen, „Schwaben” für die Russen und Polen, „Germanen” für die Briten, „Alemannen” für die Franzosen, „Teutonen” für die Italiener, wobei die Deutschen für sich selber diese Wurzel  als Bezeichnung übernahmen [x] Aly gibt korrekt wieder:

1806 waren die Deutschen weniger ein Volk als eine Ansammlung von Völkern, gespalten durch die Existenz zahlreicher Kleinstaaten, jeder mit seiner eigenen Geschichte. Deutsche lebten am Kurischen Haff und den Vogesen im Elsass, zwischen den Flüssen Belt und Schelde, in Südtirol sowie entlang der ganzen Donau in Osteuropa. Sie bildeten die größte kulturelle, sprachliche und ethnische Gruppe in Europa. Genau in der Mitte des Kontinents gelegen, war das deutsche Gebiet Schauplatz verschiedener Wanderungen, Kriege und religiöser Konflikte.[xi]

Der 30-jährige Krieg verwüstete die Infrastruktur und dezimierte die Bevölkerung jener Staaten, die später das Deutsche Reich umfassen sollten. Damit verzögerte sich die politische Einigung Deutschlands um Jahrzehnte. Zusätzlich zu den grauenhaften Erfahrungen des 30-jährigen Krieges litt Deutschland sehr unter den 150 später stattfindenden bewaffneten Konflikten zwischen dem revolutionären Frankreich und anderen europäischen Mächten. Napoleon spielte regionale und dynastische Interessen gegeneinander aus und verlangte massive Kriegsanstrengungen von ihnen — sowohl was Truppen als auch was Material anging. Die neue soziale Ordnung, die Napoleon in vielen deutschen Staaten etablierte, führte wiederum zu Teilungen. Dazu merkt Aly an: „Für die große Mehrheit der Deutschen war die französische Besatzung eine Zeit der Hinrichtungen und Morde sowie dauerhaften wirtschaftlichen Mangels. Einige Gemeinden hatten ihre Schulden am Ende des 19. Jahrhunderts immer noch nicht abbezahlt; andere konnten sich erst durch die große Inflation von 1923 davon befreien.[xii]

Eine zusätzliche Barriere für die deutsche Einheit war die konfessionsgebundene Teilung zwischen dem katholischen Süden und dem protestantischen Norden. Damit nicht genug, gab es auch sprachliche Hindernisse: bis zum frühen 19. Jahrhundert war immer noch unklar, welcher Dialekt als Basis für das Hochdeutsche dienen würde. Erst 1934 führte Innenminister Wilhelm Frick „deutsch” als Bezeichnung der Nationalität in Reisepässen ein und erst 1938 — als Hitler über die Vereinigung zwischen Deutschland und Österreich zu einem Großdeutschen Reich präsidierte — wurde der Traum eines vereinten deutschen Staates endlich (und nur kurz) realisiert.

Als Kontrast zur mühsamen Entwicklung der deutschen nationalen Einheit und Identität ist Aly der Meinung, dass „Juden in der Tat jene Sorte tiefer Wurzeln besaßen, nach denen patriotische Deutsche sich ständig so sehr sehnten.”[xiii] Er zitiert voller Zustimmung den zionistischen Schriftsteller Heinrich York-Steiner, der als Begründung für die steigende Popularität der Nationalsozialisten 1932 erklärte, dass „Seit der Ära der Hohenstaufen bis zum heutigen Tage Deutschlands politische und soziale Lage ungewiss, instabil und unberechenbar ist. …  Diese Position in der Weltgeschichte erklärt Deutschlands Ambivalenz gegenüber Ausländern. Was den Deutschen fehlt ist die Stärke, die von einer konstanten Entwicklung kommt, von einem auf nationaler Ebene sich entwickelnden Selbstvertrauen. Der Deutsche ist heute ein Helot, morgen ein Eroberer, und seine Gefühlsäußerungen sind Darstellungen ethnischer Übertreibung.”[xiv] Sich diese Sichtweise zu eigen machend, besteht Aly darauf, dass Deutschlands einzigartige Geschichte zu Schwäche und Selbstzweifeln sowie gleichzeitig zu Aggression und Xenophobie führte.

Alys Charakterisierung der Deutschen des 19. und 20. Jahrhunderts als „unreife, aggressive Rabauken” wurde erst während des 1. Weltkrieges zu einem Stereotyp in den angelsächsischen Ländern. Davor waren Deutsche für ihre Innerlichkeit bekannt gewesen. Die einflussreiche französische Schriftstellerin und Betreiberin eines literarischen Salons, Madame de Stael, beschrieb die Deutschen während der Napoleonischen Kriege als eine Nation von „Dichtern und Denkern, eine Rasse von gütigen, unpraktischen, jenseitigen Träumern ohne nationale Vorurteile und dem Krieg abgeneigt.” Der englische Geschichtswissenschaftler Frederic William Maitl bemerkte über die Deutschen des 19. und 20. Jahrhunderts: „Es war üblich und plausibel, die Deutschen als unpraktische, verträumte und sentimentale Wesen darzustellen, die mit sanften blauen Augen in eine Welt von Musik, Metaphysik und Tabakrauch schauten.”[xv] Auch die Amerikaner hatten vor dem 20. Jahrhundert einen guten Eindruck von den Deutschen, wobei einer ihrer Historiker festhielt: „Ob in ihrer frisch gebackenen Nation [nach 1871] oder in diesem Land betrachtet [i. e., deutsche Einwanderer in den Vereinigten Staaten], die Deutschen galten generell als methodische und energetische Leute sowie als Modell des Fortschritts, während ihre Hingabe zur Musik, Erziehung, Wissenschaft und Technologie die Bewunderung der Amerikaner weckte.”[xvi]

Aly ignoriert alle diese lobenden Beschreibungen des deutschen Charakters vor dem 1. Weltkrieg, die seinen bevorzugt unvorteilhaften Charakterisierungen widersprechen. Er behauptet, dass im Vergleich zu den Deutschen die Engländer und Franzosen „einen ganz anderen Weg eingeschlagen haben” und dass deshalb der „Antisemitismus” in diesen Ländern weniger vorherrschend und intensiv war. Zweckmäßigerweise erwähnt er mit keinem Wort, dass Juden während des Mittelalters aus England und Frankreich ausgewiesen wurden (von den Franzosen sogar mehrmals), obwohl die nationale Identität der Engländer und Franzosen angeblich gefestigter war. Ferner könnte man durchaus behaupten, dass vor dem 1. Weltkrieg die Franzosen den Juden wesentlich feindlicher gesinnt waren als die Deutschen. In Frankreich führte die Dreyfus-Affäre in über 30 Städten zu antijüdischen Ausschreitungen. Außerdem unterschlägt Aly, dass jüdische Historiker in der Regel wenig Positives zu berichten haben, was englische oder französische Einstellungen zu Juden betrifft.

Der wahre Grund, warum die Feindschaft gegenüber Juden im Vergleich zu England und Frankreich in Deutschland schließlich eine größere Intensität aufwies, ist wahrscheinlich das Ergebnis der relativen Größe der jüdischen Bevölkerung in jenen Nationen. Kevin MacDonald bemerkt in Absonderung und ihr Unbehagen, dass Juden in England im 19. Jahrhundert nur 0,01 % der Bevölkerung ausmachten. Gleichzeitig spielten sie bei der wirtschaftlichen Entwicklung jenes Landes eine bemerkenswert kleine Rolle — mit Ausnahme ihrer Dominanz des Diamanten- und Korallenhandels. Er schreibt: „Während jener Periode blieb England eine ethnisch homogene Gesellschaft, ohne ethnisches Konfliktpotential. Trotzdem gab es Antisemitismus, der sich sowohl gegen die enge Verflechtung wohlhabender jüdischer Familien als auch gegen spätere orthodoxe Einwanderer aus Osteuropa richtete.”[xvii]

Trotzdem gilt England vor dem 2. Weltkrieg im historischen Gedächtnis der Juden als eine von „Antisemitismus” erschütterte Gesellschaft. Der jüdische Historiker Norman Cantor bemerkte zum Beispiel, dass „der starke Antisemitismus jener Zeit, der sich langsam von den mit den Juden konkurrierenden unteren Klassen auf die oberen ausbreitete, allgegenwärtig und bitter war. Es gab strenge Beschränkungen, was den Eintritt von Juden in die besseren Privatschulen anging, bis hin zu den Universitäten in Oxford und Cambridge sowie den akademischen Berufen. Man ließ die Juden spüren, dass man sie als ausländisch und unerwünscht ansah.”[xviii] Er behauptet zudem, dass die britische Regierung sich sehr darum sorgte, „dass christliche junge Männer, die man zum Kriegsdienst eingezogen hatte, nicht als für Juden geopfert wahrgenommen wurden. Zu dieser generellen Vorsicht kam hinzu, dass hohe Beamte im Außen- und Verteidigungsministerium selber offen antisemitisch waren.”[xix]

Norman Cantor

Was Winston Churchill betrifft, obwohl „ein hochintelligenter Mann und persönlich so etwas wie ein Philosemit,” „rührte er keinen Finger für die vom Holocaust bedrohten Juden”, weil „er hypersensibel war, was den tiefen Antisemitismus in der Gesellschaft anging und von der Angst besessen, dass besondere Anstrengungen, die Juden zu retten, zu Anschuldigungen führen würden, ‘es ist ein Krieg der Juden’ und ‘britische christliche Jungs sterben, um die scheußlichen Juden zu retten.’ Er hielt sich völlig zurück.”[xx] Währenddessen waren die Juden in Großbritannien, „die dem osteuropäischen Judentum hätten zu Hilfe kommen können, gehemmt und abgelenkt von der Mauer des Hasses in ihrer eigenen Umgebung.”[xxi] England ist vermeintlich ein Land voll schmerzhafter historischer Erinnerungen für Juden wie den Kolumnisten des Guardian, Jonathan Freedlund, welcher behauptet, dass die Landkarte von England „übersät ist mit den Stätten jüdischer Pein im Mittelalter: Lincoln, Norwich, York“. [xxii]

Aly sieht über alles das hinweg und stellt fest, dass Deutsche unter den europäischen Völkern einzigartig feindselig gegenüber Juden eingestellt waren und dass „ihre besondere Art des Antisemitismus” ein Beiprodukt ihrer „angeborenen unsicheren nationalen Identität” sei. [xxiii] Diese Unsicherheit hätten sie durch eine übermäßige Zurschaustellung von Nationalstolz und ethnischem Bewusstsein kompensiert und waren dementsprechend erfreut zu hören, dass man sie als ‘bestes Volk der Welt’ bezeichnete“. Außerdem ist Aly der Meinung, dass „einer Nation, der dieser Drang zur Prahlerei innewohnt, das innere Gleichgewicht fehlt.”[xxiv] Offenbar verspürt der Autor keinen Zwang, Juden nach dem gleichen Standard zu beurteilen oder darauf hinzuweisen, dass die jüdischen Schriften auf eine lange, übertriebene (und oft völkermörderische) Beteuerung jüdischer Überlegenheit hinauslaufen.

Paradoxerweise betont Aly, dass diese „von Haus aus unsicheren” Deutschen von Juden im frühen 19. Jahrhundert im Vergleich zu den Einheimischen in verschiedenen osteuropäischen Ländern mit einer angeblich gefestigteren nationalen Identität als wesentlich wohlwollender betrachtet wurden. Aly schreibt, dass

im 19. Jahrhundert aus osteuropäischen Nachbarländern nach Deutschland ausgewanderte Juden sich beim Grenzübertritt sehr erleichtert fühlten. Sie wussten den rechtlichen Schutz, die wirtschaftliche Freiheit und die Erziehungsmöglichkeiten zu schätzen, die zunächst Preußen und später das Deutschen Reich boten. Antijüdische Pogrome, die in Ost- und Südosteuropa bis weit ins 20. Jahrhundert weitergingen, gab es in Deutschland nicht mehr. Durch die gleichzeitige Abwesenheit von staatlichen Beschränkungen entwickelte sich das Land zu einem Magneten für jüdische Migration. Im Jahre 1910 lebten in Deutschland zweimal so viele Juden wie in England und fünfmal so viele wie in Frankreich.[xxv]

Welche Veränderungen führten also zu einem Anstieg der deutschen Feindseligkeit gegenüber Juden während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts? Nachdem Napoleon 1806 die Juden im Westen Deutschlands von den meisten rechtlichen Beschränkungen befreit hatte und sie Teil der deutschen Gesellschaft geworden waren, wurden Deutsche zum ersten Mal mit den sozialen und wirtschaftlichen Folgen des uneingeschränkten Semitismus konfrontiert. 1806 besaßen die Juden in Preußen fast gar nichts. 1834 gehörten bereits 13% von ihnen zur werdenden oberen Mittelklasse, während mehr als 50% der Mittelklasse zugehörig waren.[xxvi] Es war keine Überraschung, dass dies bei weiten Teilen der einheimischen Bevölkerung zu Reaktionen führte. Aly bemerkt hierzu:

Dieser Umschwung lag darin begründet, dass nichtjüdische Deutsche gezwungen waren, sich der, polemisch ausgedrückt, jüdischen Herausforderung zu stellen. Während des 19. Jahrhunderts hatten Handwerker, vom Hofe bestimmte Kaufleute, Eigentümer von mittelgroßen Bauernhöfen, Pastoren, Beamte und andere respektierte Persönlichkeiten Schritt um Schritt an Einfluss verloren. Die verbliebenen Handelsgilden verwandelten sich in eigennützige Monopole, die die wirtschaftliche Entwicklung bremsten; so versuchten z.B. Berliner Handwerker mit Hilfe rechtlicher Tricks ihre traditionellen Privilegien zu bewahren. Trotz ihrer Anstrengungen wurde das alte soziale Zentrum nach und nach von einer neuen Mittelklasse aus Rechtsanwälten, Ärzten, Betriebsleitern, Verlegern, Braumeistern, Börsenmaklern, Theaterdirektoren und Eigentümern von Kaufhäusern ersetzt. Darunter befand sich eine unverhältnismäßige Anzahl an Juden.[xxvii]       

Vor 1806 hatten Deutsche und Juden nur begrenzten gesellschaftlichen Kontakt. Diese Situation änderte sich nach und nach während des 19. Jahrhunderts, als die städtische jüdische Bevölkerung stark anstieg. Zwischen 1811 und 1875 wuchs die Zahl der Berliner Juden um das Vierzehnfache. Es war dennoch nicht nur eine Frage der steigenden Anzahl und des rapiden jüdischen wirtschaftlichen Aufstiegs, es waren ebenso die „sozialen Konflikte”, die das jüdische Eindringen und schließlich die Vorherrschaft in der deutschen Gesellschaft begleiteten, die zu „ständigen Diskussionen der Judenfrage führten.” Aly führt hierzu aus, dass nach der Emanzipation „Juden weniger als Anhänger eines fremden, barbarischen Glaubens und mehr als Mitglieder einer säkularen soziowirtschaftlichen Gruppe betrachtet wurden, die unverhältnismäßig von der Modernität profitierte.”[xxviii] Dem durchschnittlichen Deutschen dämmerte bald die Erkenntnis, dass Juden nicht einfach eine religiöse Gemeinschaft, sondern eine endogame ethnische Gruppe waren, die eine äußerst erfolgreiche Überlebensstrategie entwickelt hatte.

Diese Einsicht verstärkte sich jahrzehntelang, insbesondere nach der Verbreitung evolutionären Gedankengutes in Deutschland, die auf die Veröffentlichung von Darwins Entstehung der Arten 1859 folgte (die deutsche Übersetzung erschien 1860). Alfred Kelly hat dokumentiert, wie der Darwinismus in Deutschland zur Sensation wurde, indem er festhielt: „Mehr als in irgendeinem anderen Land wurde der Darwinismus in Deutschland zu einer Art volkstümlicher Philosophie, sogar mehr als in England. Der Darwinismus setzte sich in deutschen Wissenschaftskreisen durch; in der Tat war Deutschland, und eben nicht England, im 19. Jahrhundert das Zentrum der biologischen Forschung. …  Es bot ebenso die besten Bedingungen, unter denen der Darwinismus jenseits der wissenschaftlichen Abgrenzung expandieren konnte.” Darwin selber bemerkte, dass „Dank der Unterstützung, die ich aus Deutschland erfahre, hege ich die starke Hoffnung, dass sich unsere Ansichten letztendlich durchsetzen werden.”[xxix]

Titelseite der ersten deutschen Ausgabe von Darwins Entstehung der Arten (1860)

Kevin MacDonald hat festgestellt, dass es im Deutschland des 19. Jahrhunderts mehrere „detaillierte Vorschläge für nichtjüdische Gruppenstrategien gab, die im Gegensatz zum Judentum standen.”[xxx] Eine deutsche Veröffentlichung im 19. Jahrhundert bezeichnete das Judentum als „eine politische, soziale und geschäftsbezogene Allianz mit dem Zweck, Nichtjuden auszubeuten und zu unterjochen.”[xxxi] Nachdem er Statistiken über den Prozentsatz an Juden unter den Arbeitgebern und den Schülern an höheren Bildungsanstalten zitiert hatte, stellte der deutsche Nationalist Adolf Stoecker fest: „Sollten die Israeliten weiter in diese Richtung expandieren, werden sie uns völlig überwältigen. Keiner sollte dies bezweifeln; auf diesem Grund steht Rasse gegen Rasse und es wird — nicht von Hass getrieben, sondern als Konkurrenz — ein Rassenkampf geführt.”[xxxii]

Diese gedankliche Linie wurde schließlich am deutlichsten und überzeugendsten von der Ideologie des Nationalsozialismus vertreten. In der unveröffentlichten Fortsetzung seines Buches Mein Kampf umriss Hitler seine Wahrnehmung, dass das Judentum eine evolutionäre Gruppenstrategie sei, wie folgt:

Die Juden, obwohl sie kein Volk mit einem vollständig einheitlichen rassischen Kern sind, weisen trotzdem bestimmte grundlegende Eigenheiten auf, die sie von anderen Völkern unterscheiden. Das Judentum ist keine religiöse Gemeinschaft; vielmehr sind die religiösen Bindungen zwischen den Juden in Wirklichkeit die jetzige nationale Beschaffenheit des jüdischen Volkes. Der Jude hat im Gegensatz zu den arischen Ländern niemals seinen gebietsmäßigen definierten Staat gehabt. Nichtdestrotz ist seine religiöse Gemeinschaft ein Staat in sich, weil sie die Erhaltung, Verbreitung und Zukunft des jüdischen Volkes sicherstellt. …

Genau wie jedes Volk als grundlegende Tendenz all seines irdischen Schaffens die Besessenheit auszeichnet, sich selbst zu erhalten, trifft das Gleiche auf die Juden zu. Doch hier hat der Kampf ums Überleben verschiedene Formen angenommen, gemäß der völlig unterschiedlichen Natur der arischen Völker und der Juden. … Das Dasein des Juden als solchem wird nur durch die parasitäre Existenz auf Kosten anderer Völker ermöglicht. Das endgültige Ziel des jüdischen Überlebenskampfes ist die Versklavung produktiver Völker. Um dieses Ziel zu erreichen— welches in Wirklichkeit den jüdischen Überlebenskampf durch alle Zeiten darstellt — nutzt der Jude alle Waffen, die ihm sein Charakter zur Verfügung stellt.[xxxiii]

MacDonald bemerkt in Absonderung und ihr Unbehagen, dass der Nationalsozialismus eine evolutionäre Gruppenstrategie war, die mehrere wichtige Besonderheiten des Judentums als evolutionäre Strategie einer Gruppe widerspiegelt. Nach 1933 brach in Deutschland der Konflikt zwischen diesen beiden gegensätzlichen Gruppenstrategien aus.[xxxiv] Aly verwirft die Argumente des deutschen Genetikers Fritz Lenz, an denen man direkt die moralischen Gebote des Judentums als einer evolutionären Gruppenstrategie ablesen kann, die die Rasse erhalten soll. Lenz hatte bemerkt, dass „auf lange Sicht die einzigen Lebensformen, die überleben können, diejenigen sind, bei denen die Rasse ebenfalls erhalten werden kann” und der ethische Imperativ demzufolge daraus besteht, bei jeder Handlung oder Nichthandlung folgende Frage zu stellen: “Ist dies gut für unsere Rasse?”[xxxv] Der rumänische Revolutionär Nicolas Balescu hatte in der Mitte des 19. Jahrhunderts ähnlich argumentiert: „Für mich ist die Frage der ethnischen Solidarität wichtiger als die Frage der Freiheit. Ein Volk kann seine Freiheit nur nutzen, wenn es in der Lage ist, als Nation zu überleben. Freiheit kann bei Verlust leicht wiedergewonnen werden, aber die ethnische Identität nicht.”[xxxvi] Laut Aly basieren solche Gedanken auf „massiven Minderwertigkeits- und Neidgefühlen.”[xxxvii]

Zu Teil 3.

[i] Götz Aly, Why the Germans? Why the Jews?: Envy, Race Hatred, and the Prehistory of the Holocaust (New York: Metropolitan Books, 2014), 1.

[ii] Ibid., 4.

[iii] Ibid., 54.

[iv] Kevin MacDonald, Separation and Its Discontents: Toward An Evolutionary Theory of Anti-Semitism (1st Books Library, 2004), 171.

[v] Yuri Slezkine, The Jewish Century (NJ: Princeton University Press, 2006), 57.

[vi] Aly, Why the Germans?, 223.

[vii] Ibid., 222-23.

[viii] Abraham Meyerson, “The ‘Nervousness’ of the Jew,” In: Jews and Race: Writings on Identity and Difference 1880-1940, Ed. Mitchell Hart (Waltham MA: Brandeis University Press, 2011), 177-178.

[ix] Ibid., 221.

[x] Watson, The German Genius: Europe’s Third Renaissance, the Second Scientific Revolution and the Twentieth Century (London: Simon & Schuster, 2010), 429.

[xi] Aly, Why the Germans?, 46-7.

[xii] Ibid., 43-4.

[xiii] Ibid., 220.

[xiv] Ibid., 221.

[xv] Peter Birks & Arianna Pretto, Themes in Comparative Law: In Honour of Bernard Rudden (Oxford: Oxford University Press, 2002), 265.

[xvi] David G. Haglund, Ethnic Diasporas and the Canada-United States Security Community: From the Civil War to Today (New York: Rowman & Littlefield, 2015), 170.

[xvii] Aly, Why the Germans?, 176.

[xviii] Ibid., 360.

[xix] Ibid.,361.

[xx] Ibid.,361-62.

[xxi] Ibid., 349.

[xxii] Jonathan Freedland (2005) Journey into the Heart of Belonging (London: Hamish Hamilton, 2005), 9.

[xxiii] Aly, Why the Germans?, 219.

[xxiv] Ibid., 7.

[xxv] Ibid., 1.

[xxvi] Ibid., 29.

[xxvii] Ibid., 65-6.

[xxviii] Ibid., 3.

[xxix] Alfred Kelly, The Descent of Darwin: The Popularization of Darwin in Germany, 1860-1914 (Chapel Hill, University of North Carolina Press, 1981), 5; 21-23.

[xxx] MacDonald, Separation and Its Discontents, 165.

[xxxi] Ibid., 171.

[xxxii] Ibid.

[xxxiii] Adolf Hitler, Hitler’s Second Book: The Unpublished Sequel to Mein Kampf  (Enigma Books, 2003), 233-34.

[xxxiv] MacDonald, Separation and Its Discontents, 163.

[xxxv] Aly, Why the Germans?, 213.

[xxxvi] Ibid., 57.

[xxxvii] Ibid., 206.

 

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